Es ist halb 9 Abends, und wir sind in Cabaiguán, einem kleinen Dorf in der Provinz Santi Spiritus. Wir sind in einem kleinen Haus, welches ziemlich ab vom Schuss und mitten in der Natur ist. Dort sitzen wir in einem Stuhlkreis draussen auf der Veranda, und versuchen die Mücken davon abzuhalten, uns aufzufressen. Es ist der 06.12., ein Tag vor dem Jahrestag an dem 1997 die Leichen der Gefallenen in den Unabhängigkeitskriegen in Afrika nach Kuba gebracht wurden. Es ist schon lange dunkel, aber wie immer noch warm genug um im Shirt nicht zu frieren. Julián, unser Koordinator und die Seele unseres Projektes, sitzt mitten unter uns, neben ihm sitzt seine Frau Hilda. Als Kuba in den Krieg in Äthiopien zog, war er mit dabei. Davon will er uns nun erzählen.
Wir warten darauf, dass alle da sind, bis wir anfangen – auch, wenn wir dadurch eine viertel Stunde zu spät dran sind. Julián sitzt lächelnd in seinem Stuhl, man sieht ihm richtig an, wie gerne er seine Erfahrungen aus der Vergangenheit teilt. Obwohl es so ein schweres Thema ist, und er in diesem Krieg viele traumatische Ereignisse erlebt hat, kann er heute so offen darüber reden. Das beeindruckt mich. Nun sitzen wir alle in einem Sitzkreis um ihn herum, fast wie Kinder, die darauf warten, einer Gute-Nacht-Geschichte zu lauschen. Ein wenig zynisch kommt mir das vor, aber was ist schon eine geeignete Art und Weise, solchen Erlebnissen zuzuhören? In diesem Setting fühlt sich zumindest jeder Wohl, und es kann eine familiäre Stimmung entstehen.
Julián fängt an zu erzählen, dass er und Hilda schon seitdem er 16 Jahre alt ist zusammen sind. Sie gehörten mit zu der „ersten Generation der Revolution“, in der noch ein ganz anderes Bewusstsein von Internationalismus herrschte. Da das kubanische Volk vor Allem von den spanischen Besetzern und den afrikanischen Sklaven abstammt, sind sie schon immer sehr verbunden mit den afrikanischen Völkern gewesen. Die Überzeugung, Afrika im Unabhängigkeitskampf gegen ihre Kolonialherrschaft zu unterstützen, war von Anfang an gegeben. Denn besonders die Revolution hat das Prinzip der Solidarität und des Internationalismus aufgebracht, und in den Köpfen des Volkes gefestigt.
Hilda unterbricht Julián in seinem Redefluss. Sie sagt ihm, er solle zur eigentlichen Geschichte kommen, denn sie wolle früh schlafen gehen, und er rede sonst zu lange. Wenn er so weiter erzähle, säßen wir noch bis Mitternacht da. Julián lacht, und fängt an, über seine Vergangenheit im Militär zu berichten. Als Julián zum Militär ging, kam er in die bataillon especial. Dort wurden Leute ausgesucht, die physisch am fittesten waren und ein besonders internationalistisches Bewusstsein hatten. Diese bataillon especial hatte viele verschiedene Missionen: zum Beispiel sicherten sie die Reise Fidel’s nach Jamaica. Ein Teil der Gruppe fuhr auf dem Schiff mit Fidel mit, um ihn zu sichern. Der andere Teil blieb in Holguín und hielt sich dort bereit auch nach Jamaica zu fahren, falls etwas passieren sollte. Julián berichtete, wie traurig er war, dass er bei dieser Mission nicht dabei sein konnte. Denn er glaubte sehr an das, was diese bataillon vertrat. 1978 ging er mit dem comitée militar zur Militärvorbereitung in der zuständigen Universität. Dort wurden alle auf den nächsten Militäreinsatz vorbereitet. In dem Moment wussten sie noch nicht, für was sie trainierten – denn die Mission war streng geheim.
Damals war er schon in einer Bataillon, doch da er bei der Mission davor nicht dabei war wurde er von der einer zur anderen Bataillon geschoben, weil sie ihn noch nicht so gut einschätzen konnten. In seiner entgültigen Bataillon wurde er zu einem Minenleger ausgebildet. Sie haben dort gemeinsam trainiert, und ihre Positionen zugeteilt bekommen. Lachend erzählt er, wie geknickt er war, als er die letzte Position bekam. Als die Ausbildung dem Ende zuging, versammelten sie sich alle auf einem Platz. Dort kam Fidel Castro Ruz – damaliges Staatsoberhaupt – zu Besuch, um zu ihnen zu sprechen. Fidel sagte, er würde ihnen nun verraten, wo die Mission hingehe, denn sie gehe bald los. Davor müssen sie sich aber entscheiden, ob sie mitkommen wollen. Aufgrund der strengen Geheimhaltung dieser Mission dürfen nur die, die mitkommen werden, auch wissen, wo es hingehe. Er gab ihnen allen die Wahl, und sagte, wer nicht mitkommen wollen würde, solle nun gehen. Der geringste Teil der Leute gingen.
Nun verriert er ihnen auch das Ziel der Mission: Äthiopien. Julians Augen leuchten auf, als er erzählt, wie Fidel zu ihnen sprach. Er erzählt, wie nah er sich ihm und seinen Genoss*Innen in diesem Moment fühlte, denn er wusste, er würde genauso für die Befreiung eines Landes kämpfen, wie es Fidel damals schon mit Che, Camilo und ihren Genoss*Innen getan hatten. Diese enge Verbundenheit zur eigenen Geschichte kann ich kaum nachvollziehen: bei dem Gedanken, selber in den Krieg zu ziehen, leuchten bei mir gewiss nicht die Augen auf, eher läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Denn wenn ich an die Kriege denke, die Deutschland geführt und unterstützt hat, kann ich kein bisschen stolz sein. Doch waren die Motive so verschieden wie die der kubanischen, natürlich kann ich durch meine unterschiedliche Erfahrung dieses Bewusstsein nicht ganz nachvollziehen.
Fidel gab bei der Ansprache ein Panorama über die militärische Situation Vorort. Er sprach zu ihnen, als würde er sie alle schon ewig kennen. Am Ende sah er sie alle an, und sagte, dass er an sie denken würde wie ein Vater an seine Kinder. Er sagte, er sei sehr traurig, dass er selber nicht mit ihnen da sein kann, aber dass er immer in Gedanken bei ihnen sein würde. Am 15. März wurde in den Zeitschriften offiziell bekannt gegeben, dass einen Kampf um Äthiopiens Befreiung gibt, den Kuba nun selber mit Truppen unterstützen werde. Julián hatte seiner Frau davor nur sagen können, er werde in den Krieg ziehen, wohin jedoch konnte er ihr nicht verraten. Erst durch diese Bekanntgabe wusste sie nun, wo ihr Mann kämpfen würde. Vor lauter Aufregung ist Julián damals auch einfach abgereist, er hatte sogar vergessen, sich von seiner Frau zu verabschieden. Hilda schaut ihn böse an, ein Lächeln schleicht sich aber auf ihre Lippen. „Du hättest dich ja schon wenigstens verabschieden können!“, sagt sie vorwurfsvoll. Julián lacht, und schaut sie schmunzelnd an: „Dass du mir das nach all den Jahren noch übel nimmst…“ Er erzählt weiter.
Der Krieg in Äthiopien find 1978 an. Das Land wurde derzeit von jungen Revolutionären regiert, die das Land aus der Unterdrückung befreien wollten. Dann jedoch fielen somalische Truppen in das Land ein, und besetzten viele Gebiete. Um die Besetzer zurückzuzwingen, unterstütze Kuba die äthiopischen Truppen. Die kubanischen Truppen erhielten die Unterstützung der Sowjetunion, und hatten deswegen sowjetische Waffen. Insgesamt gingen 4 Bataillone mit insgesamt 40.000 Kämpfer*Innen nach Äthiopien, welche immer eine Mischung aus Äthiopiern und Kubanern waren. Sie waren den Somaliern auf dem Boden überlegen, die Somalier ihnen jedoch in der Luft. Als sie aus Kuba anreisten, flogen sie erst nach Angola, und von das aus weiter nach Äthiopien. Die Fenster der waren verdunkelt, damit niemand sah, wer in dem Flugzeug ist. Die Geheimhaltung war sehr strikt. Julián lacht, als er uns erzählt, dass sie alle erstal einen riesigen Kulturschock bekamen, als sie ankamen. „Schaut, ich verstehe also vollkommen, wie es euch mit eurem anfänglichen Kulturschock hier in Kuba ergangen ist!“ scherzt er.
Wie locker er mit dem Thema umgeht, beeindruckt mich. Schließlich sind wir hier nur als Studenten in diesem Land, und können uns sooft zurück ziehen, wie wir wollen – er hingegen konnte nicht einfach mal einen Tag vom Krieg frei nehmen, um auf dem Bett zu chillen und Musik zu hören. Und ihr Kulturschock bestand aus etwas ganz anderem als unserer: Als sie ankamen, stiegen sie mit jeweils 10-15 Leuten in kleine Busse, in der jeweils nur eine AK war. In dem Bus erzählten ihnen die Einheimischen, sie müssen vorsichtig seien, denn sie könnten attackiert und überfallen werden. Zur Verteidigung dagegen gab es nur diese eine AK für alle Leute in dem Bus. Mit einem ernsten Blick erzählt Julián wie er mit einem neben ihm redete, und zu ihm sagte: „Wenn wir überfallen werden, nimm du die AK, und währe dich. Wenn du stirbst, nehme ich die Waffe und schiesse weiter.“ Zuerst fuhren sie nach Arba, welches das Zentrum aller Truppen war. Ihnen kam ein überwältigender Gestank entgegen: Der Reis, der gerade gekocht wurde, war vorher nass gewurden. Dadurch dass sie aber keine Reserven verschwenden konnten, mussten sie ihn trotzdem essen. Lachend ahmt Julián nach, wie alle aßen: Er hält sich die Nase zu, und macht eine Person nach, die sich so schnell wie möglich alles Essen in den Mund schiebt. Er erzählt, dass manche sich nicht dazu überwinden konnten, und deswegen dann garnichts gegessen haben.
Direkt am ersten Tag schrieb Julián noch Hilda eine Karte, damit sie wusste, wo er ist, und sie ihm zurück schreiben konnte. Hilda schrieb Julián jeden Tag eine Karte, mit allem, was ihr an dem Tag passiert ist. Damit er antworten kann, schickte sie ihm auch immer Stifte und Karten. Als sie ihn einmal besuchte, zeigte er ihr, dass er alle ihre Karten behalten hatte. Julián lächelt Hilda an: „Du weisst, ich habe immernoch jede einzelne von deinen Karten. Sie liegen bei mir im Schrank.“ Die beiden schauen sich an, und für einen kurzen Moment herrscht Stille. Man spürt förmlich ihre lebenslangen gemeinsamen Erfahrung in der Luft liegen. Hilda meint nach einem kurzen Moment: „Genug davon. Jetzt mach aber weiter mit der Erzählung! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!“ Julián fährt hinfort. Am nächsten Tag bekamen sie alle äthiopische Uniformen. Am dritten Tag im Camp wurde ihnen gesagt, sie würden jetzt zu einem Kampf fahren. In diesem Kampf, erzählten sie ihnen, hätten die Äthiopier mit einem Messer einen Panzer geöffnet, die Somaler aus diesem rausgeholt, und den Tanker besetzt hatten. Julián meinte, er hätte diese Geschichte lange nicht geglaubt. Sie scheint ja auch nun wirklich nicht glaubhaft. Doch als er aus dem Krieg nach Hause kehrte, war er selber von dieser Geschichte überzeugt: Die Äthiopier waren wohl unfassbar starke Kämpfer, da sie so sehr von der Sache überzeugt waren.
In jenem Kamp mussten sie erstmal Schutzgraben ausheben, um sich vor feindlicher Artillerie zu schützen. Sie schaufelten und schaufelten, jedoch war unter der Erde Stein. Sie musste folglich ewig daran arbeiten. Verzweifelt versuchten sie sich gegenseitig zu motivieren, weiter zu arbeiten, da sie alle komplett am Ende waren. Um 4 Nachts meinten sie, sie müssen jetzt aufhören. Sie blieben einfach dort, denn sie hatten ja keinen anderen Ort, zu dem sie hätten gehen können. Die Tage über warteten die Somalier immer an den Orten, an denen die kubanischen und äthiopischen Truppen gehen wollten, um die Somalier zu attackieren. Da die Somalier jedoch wussten, wo das sein würde, griffen die gegenerischen Truppen sie immer schon bevor sie zu den Angriffsorten gelangen konnten von der Seite an, weswegen sie zurückweichen mussten. Als sie an einem Tag um 9 los liefen, um über eine Hochebene zu ihrem Ziel zu gelangen, gerieten sie in einen Hinterhalt. Die Somalier griffen sie von allen Seiten an. Erst nach 4 Stunden schafften sie es, sich durchzukämpfen. Julián schweift kurz ab, und schaut mit leerem Blick in die Ferne. „Wir haben viele Männer in dem Hinterhalt verloren. Ich habe Glück, dort lebendig rausgekommen zu sein.“
In der Zeit wussten seine Truppen nichts von den anderen äthiopischen Gruppen an den verschiedenen Orten: weder wie die Uniform aussieht, noch wo sie sich aufhalten. Sie dachten, die Uniformen wären die gleichen wie ihre, jedoch waren die der Anderen eher lumpenartig. Eines Tages gingen sie an einen neuen Ort. Dort lief ein Mann in unerkenntlicher Uniform vorbei. Sie machten sich sofort schussbereit. Als er sie sah, duckte er sich, stand wieder auf und ging weiter. Ein Somalier hatte wohl kaum so gehandelt, und deswegen merkten sie, dass es wohl einer der anderen äthiopischen Gruppen gewesen war. So etwas geschah öfter, denn sie hatten keine wirklichen Kommunikationsmöglichkeiten zu den anderen Truppen in dem Krieg. Hilda schaut Julian genervt an: „Willst du jetzt wirklich alle Kämpfe aus dem Krieg erzählen? Komm schon, es wird spät, komm zu einem Ende!“ Julián schaut auf die Uhr. Schon fast eineinhalb Stunden sitzen wir in dem Kreis, die Zeit ist wie im Flug vergangen. „Gleich!“, meint er, „Eine Sache muss ich noch erzählen!“
Nachdem sie den Krieg gewonnen hatten, und Julián kurz vor dem Heimflugwar, traf er an einer Fabrik in einem Dorf einen Mann, mit dem er sich angefreundet hatte. Julián war erkältet, und der Mann wollte ihm Medizin gegen die Erkältung schicken. Julián wollte diese erst nicht annehmen. Der Mann jedoch meinte zu ihm, dass er das ruhig annehmen könne, er wolle sich damit dafür bedanken, dass die Kubaner sie in ihrem Kampf unterstützt hatten. Er erzählte, dass bevor der Krieg angefangen hatte, sein Dorf von Somaliern besetzt war. Er war einer der einzigen, die da geblieben sind, denn er meinte, er bleibe da, bis er sterbe. Als die Kubaner kamen, drängten sie die Somalier wieder zurück zur Grenze. Der Mann hob ein Stück Erde auf, und sagte: „Wenn ihr alle heim kehrt, werdet ihr nicht mal dieses Stück Erde mitnehmen. Ich bin nicht derjenige, dem gedankt werden sollte.“ Julián blickt in die Runde, zeigt und seinen Arm, und meint: „Wenn ich mich daran erinnere, bekomme ich immernoch Gänsehaut.“ „Das reicht jetzt aber wirklich. Ich möchte ins Bett, Julián!“, meint Hilda. Julián lacht, und der gemütliche Stuhlkreis löst sich langsam auf.
Nach diesem anstrengenden Tag fallen wir alle ins Bett. Ich kann jedoch nicht einschlafen, denn mir kreist immer und immer wieder der Satz des Äthiopiers durch den Kopf. Ich kann kaum fassen, was Julián alles durchleben musste. Niemals werde ich nachvollziehen können, wie man jetzt so offen und entspannt über eine Zeit reden kann, in der man seine Genoss*Innen vor den eigenen Augen hat sterben sehen. Und als sie heim kehrten, nahmen sie aus dem Land nichts mit. Sie wollten nichts aus dem Krieg für sich gewinnen. Sie wollten nur einem Volk helfen, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Und alle, die sich entschieden haben, dort mit zu kämpfen, taten das freiwillig. Sie riskierten ihr Leben, um das Leben eines anderen Volkes zu verbessern. Denn das ist das, was die Revolution mit sich gebracht hat: Ein Bewusstsein für Solidarität und Internationalismus, wie es sonst unter keinem Volk auf dieser Welt existiert. An dem Abend schlafe ich ein mit dem Gedanken an einen Mann, in seiner Hand ein Stück Erde, die Worte sprechend: „Wenn ihr alle heim kehrt, werdet ihr nicht mal dieses Stück Erde mitnehmen. Ich bin nicht derjenige, dem gedankt werden sollte.
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