José Martí und die kubanische Revolution (Teil 2 von 2)

Die Person des kubanischen Nationalhelden José Martí wurde nach seinem Ableben durch vielerlei politische Strömungen in Anspruch genommen, so auch von der kubanischen Revolution. Hat diese jedoch ein Anrecht darauf? Um dieser Frage genauer nachzugehen, ist es sinnvoll die Gedankenwelt José Martís zu betrachten und zu versuchen die Essenzen seiner Vision zu ermitteln.

José Martís Gedankenwelt

José Martí wurde nach seinem Tod von verschiedenen politischen Strömungen benutzt, um sich an seinem Ansehen zu bereichern. Obwohl sein politisches Denken schon im frühen 20. Jahrhundert von vielen Kommunisten Kubas als ein klar sozialistisches und antiimperialistisches deklariert wurde, gelang es gerade den diktatorischen Regierungen Kubas in der neokolonialen, US-dominierten Zeit von 1902 bis 1959 seine Volksbeliebtheit für ihre Zwecke zu benutzen. So erklärten sie bereits den Aufbau der Republik als Abschluss des Kampfes Martís für eine kubanische Nation. Die Errichtung des Martí-Denkmals unter dem Diktator Fulgencio Batista, die Namensgebung des vom US-Kongress eingerichteten Rundfunksenders “Radio and TV Martí”, bis hin zu der Martí-Büste hinter dem Schreibtisch Batistas sind nur einige der vielen Beispiele dafür. Es handelte sich jedoch in besagten Jahren keineswegs um eine Republik und noch viel weniger um eine Republik nach José Martís Vorstellungen. Scheinwahlen und Diktaturen unter der politischen und ökonomischen Kontrolle der USA stellten die traurige Realität dar. Von Unabhängigkeit oder gar einer eigenen Identität Kubas konnte die neue Spielwiese der USA nur träumen. Dass die Dreistigkeit, Martís Beliebtheit für diese “Republik” zu benutzen, noch sehr viel weitreichender ist, erkennen wir, wenn wir seine Weltanschauung genauer unter die Lupe nehmen.

José Martís Ideologie basiert in erster Linie auf der Ablehnung von Imperialismus und Kolonialismus, dem Kampf für die Einheit des Volkes, dem Widerstand gegen den Feudalismus und dem Verständnis, dass Kubas Probleme mit dem Kapitalismus nach US-amerikanischem Vorbild nicht gelöst werden können. Dazu gesellten sich jedoch auch schnell die Forderungen nach allgemeiner Volksbildung, dem Recht auf gesundheitliche Versorgung und der Aufhebung jedweder Diskriminierung.

Seine Auffassungen über die Unabhängigkeit und die demokratische Republik sowie seine internationalistischen und antiimperialistischen Ideale sind tiefgreifend. Sein Humanismus prägt neue ethische Werte und konkretisiert sich in dem Kampf um das Wohlbefinden und um die vollständige Würde des Menschen. Im Mittelpunkt stehen dabei die freie Entfaltung durch Bildung, Gesundheit, Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, Gleichheit, Gerechtigkeit sowie Unabhängigkeit von imperialistischer Ausplünderung und Freiheit von der Beherrschung durch Großgrundbesitzer oder kapitalistische Konzerne. In der hartnäckigen und mutigen Erfüllung der Aufgabe im Einsatz für die Anderen, losgelöst von persönlichen Interessen, negierte er jeden geizigen Individualismus und Egoismus.

Er drückte seine Treue zu der Arbeit und den Arbeiter*Innen aus, die für ihn den Fortschritt des Menschen darstellen, die die den Weg öffnen. Die Arbeitsaktivität stellt in seiner Auffassung den essenziellen Weg der moralischen Entwicklung des Menschen dar. In dieser begründet sich auch seine bedeutende Feststellung, dass der Mensch mit der Arbeit wächst, die seinen Händen entspringt: “El hombre crece con el trabajo que sale de sus manos” – eine Feststellung, ein Spruch, der noch heute die Kopfleiste jeder Ausgabe der “Granma”, der Zeitung der kommunistischen Partei Kubas, schmückt. Auch mit dem Kampf der Arbeiter*Innen identifizierte er sich und erkannte, dass er gerecht und legitim war: “Wenn man einmal das Schlechte erkannt hat, kommt das edle Gemüt heraus um ebendiesem Schlechten Behebung zu suchen. Einmal die pazifistischen Mittel aufgebraucht, eilt das edle Gemüt für die gewaltsame Behebung herbei.” Aus seiner Treue zu den Arbeiter*Innen und der Gerechtigkeit resultierte seine Grundidee eine Arbeiter*Innenrepublik zu erschaffen, mittels welcher zuallererst die Formation des Menschen über der Basis des Verstandes und der höheren menschlichen Werte durchgeführt werden sollte. Diese drücken sich für Martí im Wesentlichen in den sozialen Werten wie Hingebung, Bescheidenheit, Uneigennützigkeit und Solidarität aus. In dieser Arbeiter*Innenrepublik sollte die Arbeit von allen Menschen mit ihren eigenen Händen und dem eigenen Denken verrichtet werden und niemand hätte das Recht auf das, was er nicht erarbeitet hat; jeder Einzelne soll ausschließlich von seinem eigenen Schweiß leben, eine Idee die an das leninistische Prinzip “wer nicht arbeitet, isst nicht” erinnert. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass es sich keinesfalls um eine Subsistenzwirtschaft handeln soll. Diese Idee ist, bei Martí ebenso wie später bei Lenin, weniger auf die Arbeitsproduktivität, als viel mehr auf die gesellschaftliche Stellung im Produktionsprozess an sich bezogen. Kritisiert wird hierbei die Ausbeutung, das Abschöpfen des Mehrwerts, welcher durch “fremden Schweiß” entstanden ist. Es handelt sich folglich um eine Idee, die eine klassenlose Gesellschaft ohne Ausbeutung voraussetzen würde, doch zu diesem Punkt der Reflexion ist er nie gelangt.

Ebenso von Bedeutung war für Martí, dass die “Unterschicht” aktiv an der Regierung teilhaben sollte. Das Militär sollte nur noch als Schutz nach außen fungieren, die Regierung nicht überwachen, sondern sich den Interessen des Heimatlandes unterordnen. Der Staat hingegen soll nach Martís Ansichten die extreme soziale Ungleichheit beseitigen und hat die Aufgabe, die nationale Wirtschaft und insbesondere die Landwirtschaft zu unterstützen. Die Außenpolitik sollte sich auf eine Union der lateinamerikanischen Staaten stützen und dem expansiven Charakter der USA entgegenwirken. Ergänzend betonte er jedoch, dass nationale Unabhängigkeit noch keine Demokratie impliziere und somit der emanzipatorische Kampf innerhalb der Gesellschaft ein ebenso wichtiges Element darstelle. Sein radikaler Humanismus brachte folglich seine Idee einer Republik hervor, die von sozialistischen Werten, von Gleichheit und Solidarität durchdrungen war, auch wenn er sich selbst nie auf den Marxismus berufen hatte.

Ein Faktor, welcher bei seiner geistigen Entwicklung ohne Zweifel eine tragende Rolle spielte, war sein vierzehnjähriger Aufenthalt in den USA. Martí lebte dort in den entscheidenden Jahren der ökonomischen Entwicklung und entdeckte in den USA die wahre Essenz, die Wurzeln des aufgehenden Imperialismus. Dies ermöglichte ihm die essenziellen Züge des imperialistischen Phänomens zu beschreiben, auch wenn er nicht dahin kam, diese in abgeschlossener Form zu formulieren. Er beurteilte mit kritischem Geiste die nordamerikanische Gesellschaft dieser Epoche und analysierte und bewertete den großen vorherrschenden Unterschied zwischen Kapitalisten und ArbeiterInnen. Durch Analysen der Handelsgegenseitigkeit zwischen lateinamerikanischen Staaten und den USA gelang es ihm zudem, die generellen politischen Verhältnisse von Hegemonialmächten und dominierten Staaten zu beschreiben. Er erkannte ein bisher so gut wie unerforschtes Phänomen, den Imperialismus, und warnte mehrfach vor “der vielleicht größten Gefahr von allen anderen Gefahren”, dass die USA die Absicht haben zu expandieren. Deshalb warnte er noch im gleichen Zuge des Unabhängigkeitskampfes gegen die spanische Kolonialmacht ausdrücklich vor dem Einfluss US- amerikanischer Interessen. Bei der Panamerikanischen Konferenz in Washington im Jahre 1889, der Martí als wichtigster Kommentator beiwohnte, legten die USA ihre Interessen schließlich offen. Sie diskutierten Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Kuba, wie etwa den Kauf, die Annexion oder die Beschlagnahmung. Martí jedoch blieb konstant bei seiner Position: “Volle Unabhängigkeit für Kuba und sonst nichts.” Seine Prognosen hinsichtlich des expansiven Charakters der USA haben sich bewahrheitet, doch der spätere Widerstand gegen diesen war nach den etwa 30 Jahre andauernden Unabhängigkeitskriegen offensichtlich zu erschöpft, um dies verhindern zu können.

Analogien mit dem Marxismus

In Kenntnis über diese Aspekte der Gedankenwelt Martís ist es möglich Übereinstimmungen zwischen seiner Ideologie und dem Marxismus zu finden um dessen Verwendung im revolutionären Kuba zu verstehen.
Es soll an dieser Stelle vorangestellt werden, dass sich die fundamentalen Ziele des martianischen Projekts durch die auf den Befreiungskrieg folgende Errichtung der neokolonialen und oligarchischen Republik, mit der martianischen Methode als nicht umsetzbar erwiesen haben. Eine Umgestaltung des Martianismus war von Nöten, um den Zielen ihre Erfüllung zu ermöglichen. Somit trat der Marxismus nach Kuba ein, verband sich mit der martianischen Ideologie und setzte die martianischen Ziele um – als logische Fortsetzung des Martianismus. Die sozialistische Revolution schuf das, was die Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Republik nicht vermochte, sie bewies sich als einzige Möglichkeit das Land zu errichten, für das José Martí kämpfte und starb.

Warum aber hat Martí nun in diesem Sinne falsch gehandelt? Warum war es nicht möglich, seine Ideen mit seinen Methoden umzusetzen? Die Antwort auf diese Frage stellt für viele Menschen die nicht genügend ausgereifte Kenntnis Martís über die systeminhärenten sozialen Widersprüche im Kapitalismus an sich dar. Diese Widersprüche wurden von Marx zwar noch zu Martís Lebzeiten entdeckt, es ist jedoch unklar inwieweit Martí über Kenntnis der marxistischen Theorie verfügte.

Dieser hatte kaum eine Möglichkeit “Das Kapital” kennenzulernen, weder noch es zur Essenz seiner Vision zu machen, auch wenn er zu Teilen die marxistischen Inhalte über seine kommunistischen Bekannten, wie Carlos Baliño, einem Mitbegründer der kommunistischen Partei Kubas, übermittelt bekam. Nichtsdestotrotz gab es im Laufe seines Lebens immer weitere Annäherungen zum wissenschaftlichen Sozialismus in dem Sinne, dass Martí für die ausgebeuteten Klassen und die koloniale Gesellschaft Partei ergriffen hat. Er verstand allerdings dabei, dass seine historische Aufgabe nicht war, sofort für die Lösung der internen Widersprüche zwischen den sozialen Klassen zu kämpfen, sondern für die Unabhängigkeit Kubas. Dies ist ein wichtiger Punkt; während Martís Lebzeiten war die Frage ob Kapitalismus oder Sozialismus auf Kuba nicht auf der Tagesordnung, sondern die nach dem ausländischen Joch oder der unabhängigen Republik. Zudem war er in der Kenntnis, dass der Sozialismus ein bestimmtes gesellschaftliches Entwicklungslevel voraussetzt, welches von der kubanischen Landbevölkerung zu dieser Zeit sehr weit entfernt war und somit für ihn noch keine realistische Alternative zu seiner gewünschten bürgerlich-demokratischen Republik darstellte. Wie er jedoch diese bürgerlich-demokratische Republik als seine radikal humanistische Arbeiterrepublik gestaltet wollte, bleibt fragwürdig.

Wenn auch nicht vollständig kongruent mit dem Marxismus, haben Martís Forschungen eine wichtige Ergänzung dessen Theorie ermöglicht; seine ökonomischen Ideen halfen dabei das neue Stadium des Kapitalismus präzise zu erkennen und zu definieren: den staatsmonopolistischen Kapitalismus, den Imperialismus. Heute ist Kuba der stattlichste Vertreter dieses antiimperialistischen Vermächtnisses. In der antiimperialistischen Ideologie José Martís finden wir demzufolge die historischen nationalen Wurzeln der Politik der kubanischen Revolution in Hinsicht auf die USA und den Imperialismus überhaupt. Auch bei dem Thema Internationalismus lassen sich essenzielle Verbindungen zwischen dem Martianismus und dem Marxismus erkennen. Martí und das revolutionäre Kuba sehen bspw. das Vaterland als Teil der Welt in der sie leben, als untrennbare Einheit mit dieser. Von beiden Akteuren wurde zumal die Nützlichkeit für die Menschheit als Ganze in jeder Entscheidung als ausschlaggebender Faktor gewertet. Diese streng antinationalistischen Weltanschauungen und Handlungsweisen stellen die Basis für ihren internationalistischen Patriotismus dar. Dazu kommt der ewige Kampf für den Fortschritt und das Glück des Menschen “Vaterland ist Humanität”. Dieser Internationalismusbegriff erstreckt sich noch weit in den Unabhängigkeitskampf, welcher sich unter Martí und später unter der kubanischen Revolution kenntlich machte. Dieser sei demzufolge nicht von der “großen Gemeinschaft” zu trennen. Das dem hinzu seine oben beschriebene “Traumrepublik” von sozialistischen Ideen nur so trotzt, erkennt wohl auch eine Laie. Die Menschen sollen etwa die Früchte ihrer eigenen Arbeit tragen. Das dies nur ohne Ausbeutungsverhältnis von statten gehen kann liegt auf der Hand. Auch die Kritik an der elitären Bildung und der damit zusammenhängenden Forderung nach einer sozialen Volksbildung, bei der die Lehrinhalte die Menschen auf ihr Leben vorbereiten sollten und die Bildung als Hilfe fungieren sollte sich zu finden und zu entfalten, lassen Analogien zum Marxismus erahnen. Es geht um einen Staat, in dem die Menschen zu ihrem eigenen Wohl gebildet werden und nicht nur um später einen hohen Gewinn für denjenigen zu generieren, der die jeweilige Arbeitskraft ankauft, um einen Staat, für den das Wohlbefinden des Volkes das einzige Ziel darstellt. Auch die Formation der höheren menschlichen Werte unter dem Staat, die zudem kongruent mit denen der marxistischen Theorie sind, ist eine Idee, die ebenfalls im Mittelpunkt des Marxismus steht; den “Neuen Menschen”, mit höheren moralischen Werten, durch die Änderung der materiellen Basis erschaffen. Die Überschneidungen lassen sich sogar bis hinein in die Philosophie betrachten. Martí war der Ansicht, dass sich die Welt stets in Richtung höherer sozialer Stadien entwickelt, ebenso wie es in der marxistischen Philosophie durch das Gesetz der Negation der Negation ausgedrückt wird. Man könnte diese Liste ewig weiterführen, doch es soll an diesem Punkt genügen zu sagen, dass es in den Bereichen der Ökonomie, der Politik, der Gesellschaft, der Arbeit, der Bildung, der Kultur, der wissenschaftlichen Geschichte und den ethisch- moralischen Prinzipien eine Unendlichkeit gemeinsamer Kriterien, oftmals sogar identische gibt.

Wenn wir dem gegenüber sagen würden, dass sich die kubanische Revolution jedoch nicht nur substanziell durch die martianischen Wurzeln bestimme, müsste ebenso gesagt sein, dass sie nicht konsequent marxistisch wäre.

Die kubanische Revolution ist die Erbin des martianischen Gedankenguts. Martí führte, wenn auch unbewusst, die kubanischen Massen zum kommunistischen Denken, denn wie uns die Geschichte bewiesen hat, war nur die Doktrin von Karl Marx dazu im Stande die Ideale Martís in die Tat umzusetzen.

Dieser Artikel ist von Lorenz. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihm.

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